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07.03.2022

Ist Agilität doch nicht die Lösung?

Das Akronym VUCA ist allgegenwärtig: Märkte sind zunehmend geprägt durch eine hohe Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und auch Mehrdeutigkeit spielt eine immer größere Rolle. Eine reduziertere Time-to-Market von neuen Produkten und Services sowie das zeitnahe Erkennen und schnelle Erschließen von Opportunitäten sind vor allem in wettbewerbsintensiven Branchen meist unabdingbar, um zukünftig am Markt bestehen zu können.

In diesem Kontext ist aus Sicht der Organisation jedoch kaum prognostizierbar, wann und wo unternehmensinterne Kommunikation und Kooperation mittelfristig notwendig sein werden. Entsprechend dynamisch und situativ gilt es, Verantwortlichkeiten und Entscheidungen sowie Kooperationsbeziehungen zu gestalten.  

Agile Organisationsentwicklung wird hier seitens des Managements oft als die allumfassende Lösung für diese Herausforderungen betrachtet. Langfristig etablierte Aufbau- und Ablauforganisationen, Wertehaltung sowie Führung und Arbeitsweise sollen meist fundamental anders gedacht und gelebt werden. Agilität ist die Lösung! Denn schließlich haben sich die Vorteile der Einführung agiler Methoden in Organisationen für viele Unternehmen als überwiegend positiv erwiesen.

So wurde neben einer erhöhten Anpassungsfähigkeit der Organisation auch aufgezeigt, dass die Arbeitszufriedenheit in agilen Teams größer ist. Denn crossfunktionale Teams können durch eine interdisziplinäre Zusammensetzung Synergien effizient nutzen und durch ein hohes und umfassendes Knowhow schnell und mit geringen Abhängigkeiten Ergebnisse liefern.

Der Weg der agilen Transformation startet oftmals mit einzelnen Organisationseinheiten – für gewöhnlich mit der IT. Parallel dazu arbeiten die anderen Bereiche des Unternehmens meistens (zunächst) weiterhin in der gewohnten linear hierarchischen Struktur. Mit langfristig angelegten Transformationsprojekten soll durch die Unterstützung der bewährten Wasserfallplanung Agilität im Unternehmen etabliert werden.

Ein Widerspruch in sich: Ganz nach der Devise „Ab heute sind wir auch agil“ wird eine entsprechende Haltung zur neuen Arbeitsweise deklariert. Bestenfalls werden zudem einige ausgewählte Knowhow Träger in agiler Methodik geschult und ein „Daily“ Termin zur regelmäßigen Abstimmung ins Leben gerufen. Die Softwareentwicklung läuft ab sofort nach Scrum, entsprechende Rollen wie Scrum Master und Product Owner ersetzen den ehemaligen Teamleiter und schön gestaltete Boards visualisieren den Teamerfolg oder den Entwicklungsstand.

In der Hoffnung auf eine reduzierte Time-to-Market mit effizienteren Arbeitsabläufen, Innovationen und transparenten Kooperationsbeziehungen werden Metriken (z. B. Velocity, also die Geschwindigkeit eines Teams) definiert, die den Erfolg der neuen Organisation abbilden sollen.
Meistens bleiben die erzielten Resultate hinter den Erwartungen zurück. Doch woran liegt das?


Ist Agilität vielleicht doch nicht die Lösung?

Folgende fünf Basiskomponenten sollten unter anderem berücksichtigt werden, um nicht Opfer agiler Stolperfallen zu werden:

Agiles Mindset und (systemische) Haltung

Es ist nicht unbedingt verwunderlich, dass eine zweitägige „Mindset-Schulung“ ausgewählter Mitarbeitenden nicht ausreicht, um eine nachhaltige Haltung und einer damit einhergehenden Veränderung der Arbeitsweise zu erzielen. Hierbei wird oftmals vergessen: „Eine neue Haltung ist das Ergebnis und nicht die Voraussetzung einer agilen Organisationsentwicklung.“
Ein systemisches Menschenbild liefert hier eine wichtige Voraussetzung, um eine konstruktivistische Haltung einzunehmen. Denn die Systemik geht nämlich im Gegensatz zum Taylorismus davon aus, dass der Mensch grundsätzlich aus seiner Sicht im jeweiligen Kontext sinnvoll handelt. Entsprechend basiert die Arbeitsweise mit entsprechender Ergebnisverantwortung vor allem auf einem Wert: Vertrauen in die Eigenverantwortung. Einzelne Teammitglieder werden auf Basis ihrer individuellen Stärken mit Aufgaben betraut, sodass diese bestmöglich zum Teamerfolg beitragen können. Führung erfolgt bestenfalls durch Leitplanken, gemeinsam definierte Rahmenbedingungen sowie durch Prozess- und Struktursicherheit. Die Führungskraft agiert vielmehr als kollegialer Coach, um dynamisch und dezentral das Beste aus dem Potential des einzelnen Mitarbeiternden herauszuholen. Durch das sogenannte Sogprinzip übernimmt ein einzelnes Teammitglied mit einer fest definierten Rolle die Bearbeitung eines neuen Problems, sobald hierfür Kapazitäten vorhanden sind und trifft – in Abstimmung mit anderen Mitarbeitenden aus dem Team – auch Entscheidungen.

Managen von Abhängigkeiten zu anderen Organisationseinheiten

Selbst wenn einzelne Teams aus der Teambetrachtungsweise hoch performant und eigenverantwortlich arbeiten, kann es passieren, dass der gewünschte Erfolg ausbleibt. Dies liegt meist darin begründet, dass selbst crossfunktionale Teams, die gemeinsam an einem einzigen Produkt arbeiten, mit Abhängigkeiten zu anderen Teams konfrontiert sind. So ist es durchaus gelebte Praxis, dass mehrere (agile) Teams an einem Produkt arbeiten bzw. es auch Abhängigkeiten zu Organisationseinheiten aus der Linienorganisation gibt. Ineffizienz entsteht meist durch „externes Warten“ auf die Zulieferung eines anderen. Dieses Problem wird oftmals in den gängigen Kanban Boards nicht umfassend transparent, weswegen diese Ursache nicht selten erst bei genauerem Betrachten ins Auge fällt. Dieses Beispiel zeigt: Der Erfolg von Agilität basiert nicht darauf, dass ein einzelnes Team hochgradig performant ist. Stattdessen muss die Organisation den Fokus darauf legen, dass ein richtiges Team zur richtigen Zeit an der richtigen Sache arbeitet. Hierzu gilt es die Interaktionen zwischen den Teams zu agilisieren und Silos entsprechend abzubauen. Denn diese können auch bei crossfunktionalen Teams entstehen.
Der Betrachtungsfokus sollte demnach von der Teamebene weg und hin zu Produkt Boards geschehen. So können Abhängigkeiten zwischen einzelnen Einheiten und Teams visualisiert und für alle transparent gemacht werden. Das Etablieren von regelmäßigen Product Retros und Standups kann hierbei ein Ansatz sein, um die Kommunikation zwischen einzelnen Bereichen und Teams zu optimieren. Eine delegierte Person aus jedem Team kann am entsprechenden Standup-Meeting teilnehmen, die wiederum die relevanten Informationen zurück ins Team trägt. Hierbei gilt es, bei den einzelnen Mitarbeitenden innerhalb der Organisation vor allem die Fähigkeiten zu entwickeln, Abhängigkeiten und unterschiedliche Zielsetzungen effizient zu managen. Diese Meetings finden bestenfalls auch regelmäßig auf Strategieebene statt, um zu identifizieren, wo die Organisation wirklich steht und wo entsprechend gegengesteuert werden sollte.

Kundenzentrierter Fokus

Der Fokus bei allen Bemühungen die Organisation agil zu entwickeln, sollte immer auf dem Mehrwert für den Kunden liegen. Bei Veränderung von Strukturen, Prozessen, Führung und Wertehaltung sollte immer die Frage im Vordergrund stehen, wie man dem Kunden den größtmöglichen Nutzen bieten kann? Die logische Schlussfolgerung dieser Kundenorientierung liegt auf der Hand: Die Aufbauorganisation ist letztlich nicht entscheidend – eine kundenfokussierte Ablauforganisation determiniert den Erfolg der Handlungen. Die Identifikation der größten Pain Points aus Perspektive des Kunden liefert wichtige Hinweise auf eine mögliche Lösungsfindung mit entsprechender Priorisierung der Aktivitäten. Agilisiert wird primär das, was den Kunden interessiert und ihm damit einen großen Nutzen bietet. Die gewählte Methodik, ob Scrum, Kanban oder nach dem Spotify-Modell, ist dabei sekundär und für den Kunden meist nicht von Bedeutung. In der Praxis haben sich Schnitte der Organisation zum Beispiel nach der Customer Journey des Kunden als effizient erwiesen. Es muss also nicht immer zwingend das Produkt sein.

Explorieren, Ausprobieren, Korrigieren!

Agile Organisationsentwicklung kann und sollte genauso inkrementell und iterativ entwickelt werden, wie sich das Verfahren bereits in der Produktentwicklung als erfolgreich erwiesen hat. Mögliche Prototypen, wie die neue Organisation aussehen könnte, lassen sich in gemeinsamen interdisziplinären Workshops visualisieren. Die Ergebnisse lassen sich in einem anschließendem Review mit einigen Mitgliedern der Organisation diskutieren, wodurch Vor- und Nachteile nachhaltig erschlossen werden können. Denn auch hier gilt: Akzeptanz der Veränderung entsteht vor allem durch Partizipation und das frühzeitige Involvieren von Mitarbeitenden. Und zwar vollkommen unabhängig von ihrer Hierarchieebene. Denn meist sind die Mitarbeitenden aus den operativen Einheiten die tatsächlichen Experten zur Lösung des Problems, die mit ihrem Wissen und Erfahrungen einen großen Anteil zur Wertschöpfung und einem kundenzentrierten Organisationsschnitt beitragen können. Idealerweise werden auch ausgewählte Kunden in die Überlegung einbezogen und erste Prototypen gemeinsam erprobt und kontinuierlich hinsichtlich einer Nutzensteigerung evaluiert.

Stabilität trotz Agilität

Bei der Betrachtung von wirklich erfolgreichen Unternehmen fällt auf, dass die Innovationsfähigkeit nicht der alleinige Faktor für kontinuierlichen Erfolg am Markt ist. Nach einer Studie von Stadler und Wältermann zeichnen sich die sogenannten Jahrhundert-Champions vor allem durch folgendes aus: „konservativ zu agieren, d. h. bei aller Anpassung die Kultur und Identität des Unternehmens zu wahren bzw. evolutionär zu verändern.Die Stärke dieser Organisationen liegt also darin bergründet, dass sie die richtige Balance zwischen Identität und Erneuerung wahren und somit Desorientierung und Identitätsverlust entgegenwirken. Das Management muss demnach gleichzeitig stabilitäts- und veränderungsorientiert handeln. Auch hierzu ist es sinnvoll, Mitarbeitende frühzeitig in den Veränderungsprozess zu involvieren, ihre Werte, Ängste und Wünsche kennenzulernen, um die Identität der Organisation zu erfassen und sinnstiftende Aspekte auch im Kontext der Veränderung beizubehalten.

Fazit

Die im Artikel exemplarisch erläuterten Basiskomponenten liefern einige von vielen Impulsen, die auf dem Weg zur agilen Organisation zu beachten sind. Agilität kann also doch eine Lösung sein, wenn sie individuell und transparent über alle Ebenen der Organisation hinweg gelebt wird.

Autor: Michelle Angel, Expert Management Consulting